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Sonntag, 4. September 2011

Das Fenster

In einem Krankenzimmer lagen zwei Männer, beide schwer krank. Einer der beiden durfte nachmittags eine Stunde in seinem Bett sitzen, damit die Flüssigkeit aus seinen Lungen ablaufen konnte. Sein Bett stand direkt am einzigen Fenster des Zimmers. Der andere Mann mußte die ganze Zeit flach auf seinem Rücken liegen.

Die Männer erzählten stundenlang. Sie erzählten von ihren Frauen und Familien, ihren Häusern, ihrer Arbeit, ihrem Militärdienst und wohin sie gereist waren, Und sobald am Nachmittag der Mann im Bett am Fenster sich aufrichten konnte, vertrieb er sich die Zeit damit, seinem Nachbarn all die Dinge zu beschreiben, die er vor dem Fenster sehen konnte.

Der Mann im anderen Bett begann, nur für die eine Stunde zu leben, in der seine Welt weit und lebendig wurde durch all das Geschehen und die Farben in der Welt draußen.

Das Fenster schaue auf einen Park mit einem lieblichen See, sagte der Mann. Enten und Schwäne schwammen auf dem Wasser und Kinder ließen Modellboote fahren. Verliebte spazierten Arm in Arm zwischen Blumen in jeder Farbe des Regenbogens. Hohe alte Bäume bereicherten die Landschaft, und schemenhaft sah man die Silhouette der Innenstadt in der Ferne. Während der Mann am Fenster all das bis ins letzte Detail beschrieb, schloß der Mann auf der anderen Seite des Zimmers die Augen und stellte sich die bunte Szene vor.

An einem warmen Nachmittag beschrieb der Mann am Fenster eine Parade, die vorbeizog. Obwohl der andere Mann die Kapelle nicht hören konnte, sah er sie vor seinem inneren Auge, da der Mann am Fenster sie mit anschaulichen Worten beschrieb.

Unerwartet tauchte ein merkwürdiger Gedanke in seinem Kopf auf: Warum hat er das Vergnügen, das alles zu sehen, während ich garnichts zu sehen bekomme? Das ist nicht fair!

Der Mann schämte sich zuerst für diesen Gedanken. Aber als die Tage vergingen und er den Ausblick immer mehr vermißte, wurde sein Neid zu Ärger, der ihn quälte. Er begann zu grübeln und konnte nicht schlafen. Ich selbst sollte an diesem Fenster liegen, dieser Gedanke beherrschte jetzt sein Leben.

Spät in einer Nacht lag er noch wach und starrte die Decke an, als der Mann am Fenster zu husten begann. Er würgte an der Flüssigkeit in seinen Lungen. Der andere Mann beobachtete in dem schwach beleuchteten Raum, wie der Mann am Fenster sich quälte und nach dem Alarmknopf tastete. Er hörte nur zu, bewegte sich aber nicht und drückte auch nicht seinen Alarmknopf, der sofort die Krankenschwester herbeigerufen hätte. In weniger als fünf Minuten hörte das Husten und Würgen auf, aber auch das Geräusch des Atmens. Zurück blieb nur Stille - tödliche Stille.

Am folgenden Morgen erschien die Krankenschwester und brachte Wasser zum Waschen. Als sie den leblosen Körper des Mannes am Fenster fand, wurde sie betrübt und ließ Krankenhaushelfer ihn mitnehmen - keine Arbeit, keine Umstände.

So schnell wie ihm angemessen schien fragte der andere Mann, ob er ans Fenster geschoben werden könne. Die Krankenschwester erfüllte ihm diesen Wunsch gerne, sah, dass es ihm gut ging, und ließ sie ihn allein.

Langsam und schmerzhaft drückte er sich auf einem Ellbogen hoch, um einen ersten Blick zu erhaschen. Endlich würde er das Vergnügen haben, alles selber sehen. Mühevoll und langsam drehte er sich, um aus dem Fenster neben dem Bett zu sehen.

Er blickte auf eine nackte Wand.

von Victor und Diane Chew


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