Was bin ich ?
Nun, angeben möchte ich bestimmt nicht, das ist auch nicht nötig, denn
richtige Angeber geben nur an, weil sie nicht wichtig sind. Ich dagegen bin
wichtig, um nicht zu sagen ich bin notwendig. Ja, das trifft es schon sehr
genau. Ich bin notwendig. Ohne mich läuft im Gerichtssaal nichts. Denn dort
sammele ich nun schon 36 Jahre meine Erfahrungen und ich kann Ihnen sagen,
diese 36 Jahre hatten es in sich. Früher war ich noch am Amtsgericht, aber 1969
wurde ich an das Landgericht versetzt. Hier wurden unter meiner Anwesenheit
unheimlich interessante Prozesse geführt und ich kann sagen, an entscheidenden
Urteilen mitgewirkt zu haben.
Ja, mir kann niemand etwas vormachen. Ich erkenne sie alle und ich weiß
genau wer sich verstellt, wer lügt und wer die reine Wahrheit sagt. Nicht dass
ich Jura oder Psychologie studiert hätte oder dergleichen, nein diese
Fachgebiete sind mein zu Hause.
Täglich wachsen meine Erfahrungen und im Laufe der Jahre habe ich erkannt,
dass alles im Leben Ursache und Wirkung hat. Den meisten Menschen ist das nicht
bewusst, denn sie leben einfach nur so in den Tag und denken nicht weiter als
bis zu ihrem Tellerrand.
Bei mir jedoch ändern sie diese Verhaltensweise häufig äußerst abrupt. Wer
mit mir zu tun hat, beginnt die Dinge plötzlich mit ganz anderen Augen zu
sehen. Dabei muss jeder Mensch wissen, dass er es eines Tages mit mir zu tun
bekommen kann. Es sollten daher die Menschen beginnen über ihren Tellerrand zu
schauen.
Da war dieses Ehepaar aus der Nähe von Celle. 28 Jahre verheiratet und nicht
einen Tag haben sie über das Leben nachgedacht, bis zu jenem schrecklichen Tag,
als der Ehemann es plötzlich tat.
Es war der 3. Donnerstag im Monat und es war Herbst. Jeden 3. Donnerstag
gab es Erbsensuppe, von der Ehefrau handgemacht. Selbst die Erbsen hatte sie
aus dem gemeinsamen Garten geerntet, gewaschen und zubereitet, als der Ehemann
plötzlich auf seinen Teller schaute und dann den Tellerrand erblickte. In
Gedanken sprang er vom Tellerrand und mit diesem Sprung erreichte er eine neue
Welt.
Es kribbelte in seinem Bauch und er hatte plötzlich ein Gefühl, als wäre es
eine erste Liebe. Er erinnerte sich an seine erste Liebe, die nun schon fast 30
Jahre sein Leben begleitete.
Doch irgendwie fühlte er sich wie die Erbse auf seinem Teller. Klein, in
der Menge unbedeutend und zerquetscht von der langen Kochzeit, die sich Leben
nennt. Wahrscheinlich wäre er lieber die starke und mächtige Bockwurst gewesen,
die sich stolz in der Erbsensuppe präsentierte, bis die Ehefrau mit dem Messer
kam und die stolze Bockwurst in lauter kleine Scheiben schnippelte.
Der Ehemann fühlte plötzlich, wie sein eigenes Leben und sein eigener Stolz
zerschnippelt wurde und in der öden Erbsensuppe zu ertrinken drohte, als er die
schwere Suppenkelle, die übrigens ein Hochzeitsgeschenk seiner Schwiegermutter
war, aus der Suppenterrine nahm, die ebenfalls zum Geschenk gehörte, Schwung
holte und die Todeswaffe seiner Ehefrau an den Hinterkopf schlug.
So fand sein Sprung über den Tellerrand ein jähes Ende. Er bekam es mit mir
zu tun. Kaum hatte er mich erblickt, schien sich sein Weltbild zurecht zu
rücken. Er verstand seine Fehler der letzten 28 Jahre und er lernte, dass
Suppenkellen diese lange Fehlzeit nicht korrigieren können. Erst jetzt setzte
er sein Herz ein und er begann mit dem Herzen zu denken.
Das alles hatte ich erreicht ohne ein einziges Wort zu sprechen und ohne
eine einzige Geste zu tätigen. Es war, wie fast immer, meine pure Anwesenheit.
Er hatte Glück, denn das Hochzeitsgeschenk seiner Schwiegermutter, die er
übrigens nicht so besonders mochte, gab den beiden eine zweite Chance und seit
dieser Zeit leben sie sehr viel bewusster und ihre Liebe blüht. Erbsensuppe
haben sie vom Speiseplan gestrichen.
Donnerstags werden immer die interessantesten Fälle verhandelt. In Scharen
fallen dann die Presseleute über meinen Gerichtssaal her. Unzählige Mal haben
mich die Fotografen schon abgelichtet, doch es tut meiner Schärfe keinen
Abbruch. Ich bin trotz allem Ruhm noch genau so, wie ich vor über 30 Jahren
war. Meine Sinne konnten nicht getäuscht oder getrübt werden. Ich habe nie
einen Eid geschworen, das brauche ich auch nicht, denn dieses Leben war und ist
meine Bestimmung.
Es war in den 70`er Jahren. Die Fälle, in denen Drogen eine Rolle spielten,
nahmen erheblich zu. Die Menschen begannen in Discos ihre Sinne zu betäuben.
Ich selbst war nie in einer Disco. Es wäre sicherlich auch nicht der richtige
Platz für mich gewesen. Was hätte ich in einer Disco ausrichten können? Nichts!
So verhielt es sich, dass die Discobesucher zu mir kamen. Sie tun es bis
heute, auch wenn sich die Gründe gewandelt haben. In diesem Jahr war es ein
etwas untersetzter Mann, der mich sehr beschäftigte und der auch seine Umwelt
sehr beschäftigte, nachdem er sie zuvor mit diversen Mittelchen und Pülverchen
benebelt hatte. Er war sehr geschickt und hatte viele Freunde. Ich hätte diese
Freunde nicht haben wollen, denn sie waren hinterlistig und dunkel.
Es gab eine ganze Reihe von Prozesstagen, um diesen Mann zu überführen.
Natürlich ließ sich der untersetzte Herr, Nein Mann, ein Herr war er nun
wirklich nicht, nicht in die Irre führen. Ich muss es in aller Deutlichkeit
sagen, dieser Mann log und leugnete, dass es im Dachstuhl knarrte. Doch der
Dachstuhl konnte sich auf mich verlassen, an mir kam die Wahrheit nicht vorbei
und der unsaubere Mann und seine Gang flogen auf.
Sie wurden selbstverständlich entsprechend verurteilt, doch dieses hatte
leider erhebliche Folgen. Seine Freunde wurden mit der Zeit immer listiger und
dunkler. Mein Job somit immer schwieriger und härter. So ergab es sich im Laufe
der Jahre, dass die untersetzten Männer in meinem Gerichtssaal weniger wurden
und auch ihre Freunde kamen nur noch sehr selten vorbei. Dafür stieg die Anzahl
der Menschen an, die untersetzten Männern und deren Freunden zum Opfer fielen.
Doch bleibe ich auch weiterhin hart und ich hoffe, dass noch viele untersetzte
Herren sich meiner Gewalt fügen müssen. Denn das ist meine Aufgabe, dafür bin
ich geschaffen.
Aber die Discos verfolgen mich seit dieser Zeit sehr. Es gibt einfach zu
viel Menschen, die schon in jungen Jahren beginnen ihre Sinne abzuschalten und
sie zu betäuben. Gut, sie werden dann sehr lustig und bestimmt auch albern,
aber lustige und alberne Menschen sollten sich nun wirklich nicht mit Dingen
beschäftigen, die einen gewissen Ernst verlangen. Autofahren ist auch so eine
ernsthafte Grundlage. Wenn sie mich sehen, dann vergeht ihnen die Albernheit
und sie beginnen zu bereuen und sogar zu weinen, aber das sage ich ja immer
wieder: „Wenn sie mich sehen müssen, ist es zu spät!“
Doch ich bin darüber nicht betrübt. Bestimmt nicht. Es ist Sinn, die
Menschen zu besinnen und so weitere Unsinnigkeiten zu vermeiden. Und das
gelingt mir. Das können Sie mir glauben. Ohne mich und meine Tätigkeit ginge es
bei uns zu, wie im wilden Westen.
Haben Sie mich übrigens schon einmal gesehen? Nein? Dann seien Sie froh.
Sie sollten wirklich alles dafür tun, mich nie in Ihrem ganzen Leben zu sehen.
Jedenfalls nicht, wenn Sie meinen Sie müssten einen schrägen Weg einschlagen.
Sie werden mich nicht mögen. Ich dagegen bin äußerst neutral, aber dennoch
werden Sie gehörigen Respekt vor mir haben.
Wenn ich Sie jedoch sehen möchte, dann werden Sie zu mir eingeladen. Dazu
muss jedoch die Voraussetzung erfüllt sein, dass Sie etwas gesehen haben oder
mindestens der Verdacht besteht, dass Sie etwas gesehen haben könnten. Oder
gehört, oder gerochen. Das geht auch. Sagen wir, Sie müssen etwas wahrgenommen
haben. Ich werde es schon aus Ihnen herausholen. Denn auch das ist meine
Aufgabe. Es ist meine Aufgabe, den Menschen ihre Aufgabe zu zeigen.
Etwas zu sehen, zu beobachten und einen Sachverhalt aufzuklären ist nämlich
die Aufgabe jedes Menschen. Parteien können Sie wählen, bei mir gibt es keine
Wahl. Bei mir gibt es nur die Wahrheit! Die reine Wahrheit und sonst nichts!
Dazu bin ich zu hart. Ich kenne da keine Gnade und es gefällt mir nicht, dass
es immer mehr Menschen gibt, die nur zu gerne ihre Sinne verbergen, nur um mit
mir möglichst nichts zu tun zu haben. Doch diese Einstellung ist falsch. Wer
sich so verhält, wird es erst recht mit mir zu tun bekommen. Daher gehen Sie
mit offenen Augen durch die Welt und sehen Sie von Ihrer Welt auf die übrige
Welt. Dann werde ich auch Sie freundlich und gerecht bedenken.
Nun haben Sie schon einige Stationen aus meinem Leben erfahren und Sie
fragen sich bestimmt, was bin ich. Ich denke, tief im Inneren wissen Sie genau,
was ich bin. Denn alles was aus tiefer Überzeugung kommt hat seine
Berechtigung, wenn die Waage stimmt. Und auf dieser Waage wird in Liebe
gemessen. Denn Liebe ist die Grundlage allen Handelns. Vor meinem Gerichtssaal
steht der Spruch: Auf der Waage des Lebens hat die Liebe das stärkste Gewicht.
Doch gehe der Waage nie zu Werke, denn gemessen wird Liebe nur in Stärke.
Da war dieser Arzt. Er nannte sich Facharzt für Frauenheilkunde. Es war ein
Skandal! Er hatte eine Quelle erschlossen, die ihm zu Ruhm und Gütern verhelfen
sollte. Er brachte die Waage durcheinander, denn er beschloss, seine
Patientinnen nicht auf dem Weg zum neuen Leben zu begleiten und das neue Leben
zu unterstützen, er saugte es einfach ab.
Damit Ruhm und Güter stetig wuchsen, saugte er nicht heimlich und leise,
sondern unheimlich laut und öffentlich. Die Waage begann zu pendeln und das
Land war im Umbruch. War es gut was er tat, oder war es eine Untat? Viele Jahre
wurde gestritten. Der Facharzt bekam schließlich allen Ruhm und alle Güter,
obwohl er bei mir in Ungnade fiel und schwer verurteilt wurde.
Ich bin ja nicht zum Philosophieren geschaffen, aber ein Leben aus Egoismus
wegsaugen zu können, macht mich traurig. Wenn die Waagschale der Probleme gegen ein neues Leben tiefer zieht
als die Waagschale für das neue Leben dagegen steht, dann müssen wir die Waage
gleichen, indem wir alle dem neuen Leben die Hände reichen.
Doch von Gefühlen lasse ich mich nicht leiten. An mir ist es Gerechtigkeit
zu verbreiten.
Daher ist es gut, dass nicht ich das Gesetzt bin. Das Gesetzt ändert sich
nämlich stetig. Ich dagegen nicht. Menschen machen das Gesetzt und Menschen
machen Fehler. Ich dagegen nicht. Ich wäre natürlich sehr froh, wenn ich eines
Tages ganz allein in meinem Gerichtssaal stehen könnte. Dieses hätte nämlich zu
Folge, dass es kein Unrecht mehr geben würde. Das wäre für mich eine
erstrebenswerte Situation. Daher bin ich auch nicht geltungssüchtig. Für diesen
Umstand würde ich gerne in meiner Arbeit zurückstecken. Doch leider sind es
wiederum die Menschen, die gegen diese Ziele Arbeiten, obwohl sie, genau wie
ich, davon träumen.
So werde ich sicherlich noch die nächsten 20 Jahre in meinem Gerichtssaal
meiner Bestimmung gerecht werden. Doch meine Zukunft ist sehr positiv, denn
egal was die Zukunft bringt, ich bin nicht nur hart, ich sehe das auch noch
ganz cool, denn im Gerichtssaal, im Zeugenstand, bin ich nur der Stuhl!
Kurzgeschichte von Hendrik Rehrer
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